Verändert Content Creation unsere Wahrnehmung von Realität – oder nur deren Oberfläche?
Ein Essay über Objektive, Likes und die fragile Linie zwischen Sein und Schein.
Es beginnt mit einem Klick.
Ein Ausschnitt wird gewählt, belichtet, gefiltert, getaktet. Es ist ein Bild von dir, deinem Kaffee, deinem Projekt, deinem Tag. Aber ist es wirklich dein Tag? Oder ist es eine Version davon – besser gerahmt, sauberer geschnitten, dichter am Ideal als an der Realität?
Wir leben in einer Ära, in der Wirklichkeit nicht mehr einfach passiert – sie wird produziert. Und zwar in Form von Content. Jedes Bild, jede Story, jedes Video: eine Miniatur-Inszenierung des Realen. Und wie bei jeder Inszenierung stellt sich eine unbequeme Frage:
Was bleibt von der Realität übrig, wenn wir sie ständig in Content verwandeln?
Reality is a construct – und Content ist der Architekt
Die Content-Welt lebt von der Behauptung, sie sei „authentisch“. Aber Authentizität ist längst zum Stilmittel geworden. Der zufällig gute Winkel, das verwackelte Handyvideo, die ungefilterte Meinung – alles Teil einer Ästhetik, die gerade deshalb so wirksam ist, weil sie wie ein Unfall aussieht, aber kein Unfall ist. Wir haben gelernt, wie „echt“ aussieht. Und wir haben angefangen, so zu produzieren.
Wir zeigen nicht mehr, wie etwas war – sondern wie es wirkt.
Das Ergebnis: Eine Realität zweiter Ordnung. Nicht erfunden, aber geformt. Nicht gelogen, aber geleitet. Wie eine Doku mit Off-Kommentar. Der Kommentar ist Teil der Geschichte. Aber er verändert sie.
Vom Dokument zum Design
In der Fotografie war es immer schon klar: Ein Bild ist nie neutral. Der Ausschnitt entscheidet, was sichtbar ist – und was nicht. Doch früher war das Bild Ergebnis. Heute ist es oft Ziel.
Content Creation dreht dieses Verhältnis um. Die Realität ist nicht mehr der Ausgangspunkt – sie ist Rohmaterial. Und wir, die Creator, sind Cutter, Regisseure, Komponisten. Wir „gestalten“ Wirklichkeit – nicht, weil wir lügen wollen. Sondern, weil die Plattformen uns dazu zwingen.
Das Authentischste ist das, was gut performt. Und was gut performt, ist selten das, was zufällig passiert.
Was macht das mit uns?
Wenn wir unsere Tage in Stories auflösen, unsere Gedanken in Carousel-Posts formen, unsere Stimmungen in Farbpaletten übersetzen – sehen wir dann die Welt noch, wie sie ist? Oder nur noch, wie sie sein könnte?
Vielleicht liegt die Veränderung nicht in der Realität selbst – sondern in unserer Beziehung zu ihr.
Wir erleben Momente nicht mehr nur, um sie zu erleben – sondern auch, um sie später erzählen zu können. Wir sehen einen Sonnenuntergang und denken: Wird das ein gutes Reel? Wir erleben eine Emotion und fragen uns: Ist das postbar?
Zwischen Sein und Teilen entsteht ein Riss. Ein Zwischenraum.
Und dieser Zwischenraum ist nicht leer.
Er ist voller Fragen.
Und jetzt?
Dieser Artikel gibt keine Antworten. Er ist keine Kritik an Content Creation – er ist eine Einladung zum Nachdenken.
Denn vielleicht geht es nicht darum, die Realität zu retten. Sondern darum, bewusst mit ihr zu spielen. Nicht alles sofort zu verwerten. Nicht jede Regung zu formatieren. Manchmal einfach zu schauen, zu spüren – ohne zu posten.
Oder wie ein Freund es mal gesagt hat: „Ich will wieder was erleben, ohne dass ich danach was draus machen muss.“
Klingt radikal. Ist es vielleicht auch.
Aber hey – vielleicht ist genau das der ehrlichste Content, den es geben kann.